Das falsche Glück

Vor vielen, vielen Jahren, als ein Jeder noch wusste wie Weizen, Roggen, Gerste und Hafer aussieht und schmeckt, da lebte tief im Sauerland, in einem kleinen Dörfchen, hinter’m Denstenberg, ein armer Knecht mit seiner Frau und seinen fünf Kindern, eines feiner als das Andere. Er schuftete von früh bis spät und musste trotzdem oft mit leerem Magen schlafen gehen.

Einmal, es war schon September, Erntezeit, da ging er mit den anderen Tagelöhnern hinaus. Sie stellten sich an dem einen Ende des Kornfelds in einer Reihe auf und zogen mähend übers Feld, aber jedes Mal, wenn sie am anderen Ende angelangt waren, mussten die übrigen auf den Armen warten. Er schämte sich, dass er hinter ihnen zurückblieb und sie ihn wegen seiner Schwäche verspotteten, aber er konnte nichts dagegen machen, denn der ständige Hunger hatte ihm alle Kraft geraubt.

Am Abend, als die Schnitter heimgingen, merkte er auf halbem Wege, dass er seine Sense auf dem Feld vergessen hatte, und kehrte um, sie zu holen, denn ohne Sense konnte er am nächsten Tag doch nicht arbeiten und kein Geld verdienen.

Als er spät auf dem Feld anlangte, sah er, dass Jemand umherging und die Ähren aufl as. Da fragte sich der Arme, wer das wohl sei. „Das ist das Glück des reichen Bauern, der sammelt die Ähren auf, die du übersehen hast.“ krächzte da plötzlich eine Stimme hinter ihm und als er sich umdrehte, ja himmeldonnerwetter, da schaute er doch tatsächlich dem kleinen, uralten, sauerländer Mühlenmännlein in die Augen. Wie das Mühlenmännlein nun das verdutzte Gesicht des Armen sah, sprach es weiter: „Ja weißt du denn nicht, dass jeder Mensch ein Glück besitzt, das mit ihm auf die Welt kommt? Deines sitzt den ganzen Tag dort drüben hinter der alten Eiche und spielt auf einer Flöte, anstatt dir zu helfen. Daher kommt es auch, dass du immer mit leerem Magen zu Bett gehen musst!“

Und wie der Arme erst zu der alten Eiche und dann wieder zum Mühlenmännlein schaute, da war es auch schon wieder verschwunden, als hätte es sich in Luft aufgelöst. Zornig ging nun der Arme zur alten Eiche, fand hinter ihr auch wirklich sein eigenes Glück und rief zornig: „Wieso liegst du hier faul herum und hast nichts Besseres zu tun als auf der Flöte zu spielen, anstatt mir zu helfen, wie es sich für mein Glück gehört.“

Das Glück des Armen aber antwortete ganz gelassen, ohne sich zu rühren: „Was schreist Du mich an? Ich bin zwar dein Glück, aber kein Knechtsglück sondern ein Spielmannsglück. Bei deiner Arbeit als Knecht kann ich dir leider kein Glück bringen.“ Da wurde der Arme plötzlich ganz schweigsam und nachdenklich, ließ seine Sense auf dem Feld liegen, machte sich auf den Heimweg und schnitzte sich am nächsten Morgen eine wunderschöne, kleine Weidenflöte, anstatt mit den anderen Knechten auf’s Feld zu gehen. Wie er nun zum ersten Mal die Flöte an die Lippen setzte und anfing zu spielen, da war er selbst überrascht, wie flink seine Finger waren und wie leicht es ihm fiel, die herrlichsten Tänze und selbst die schwierigsten Melodien zu spielen. Ihm war, als würde ihm jemand dabei helfen.

Da wusste der Knecht, dass er sein Glück erst jetzt wirklich gefunden hatte und zog von Stund an als Musikant über die Dörfer. Er spielte auf Hochzeiten, Festen, Geburtstagen, Jahrmärkten und wo immer man einen lustigen Spielmann brauchte. Vorbei war nun die Zeit der schmalen Kost und endlich ging es bergauf. Reich an Geld ist er mit seiner Kunst nicht geworden, der Spielmann, aber im Herzen war er sooo glücklich, wie kaum ein Anderer und mit ihm seine Frau und die fünf feinen Kinder. Nun denkt einmal nach, über das, was das kleine, sauerländer Mühlenmännlein erzählt hat. Woll?!

Michael Klute, der Mundwerker.
Entdecker und Freund des sauerländer Mühlenmännleins.
Zeichnungen: Maja Funke